Friedrich-Magnus-Gesamtschule / Laubach

Europäische Aktionswoche "Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima"

Physik trifft Geschichte - „Liquidator“ aus Tschernobyl berichtet

 

Am 26. April 1986 kam es in Tschernobyl zum Nuklearunfall. Dieser war das ers­te Ereignis, welches auf der Internationale Bewertungsskala für nukleare Ereig­nisse mit dem höchsten Grad, als katastrophaler Unfall, eingestuft wurde. Fast 27 Jahre nach dieser Nuklearkatastrophe erlebten die Schülerinnen und Schüler des 10. Realschuljahres der Friedrich - Magnus - Gesamtschule Laubach eine Physik­stunde der etwas anderen Art.

In den vergangenen Wochen hatten Gerhard Keil und Wolfgang Hölzer im Physik­unterricht das Thema „Radioaktivität - Fluch oder Segen“ behandelt.

Im Rahmen der europäischen Aktionswochen „Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“ begrüßte Schulleiter Wolfgang Hölzer als Zeitzeugen Anatolii Kifa aus Kiew und Nazarii Gutsul der JLU Giessen als Begleiter und Dolmet­scher. Zu­nächst gab Herr Gutsul einen Überblick über den zeitlichen Ablauf und die globa­len Folgen der nuklearen Katastrophe in Tschernobyl. Er übergab das Wort an Anatolli Kifa. Dieser arbeitete 1986 als Schlosser im 150km entfernten Kiew und war Reservist der Sowjetarmee und ab dem 28. April als Liquidator eingesetzt. Er berichtete den Schülern über „sein Schicksal“ im Sonderein­satz­kommando I und dessen Aufgabe die Brandlöschung des Reaktors war. Diese erfolg­te, indem Sandsäcke in Fallschirme gepackt wurden, die dann von Hub­schraubern über dem sehr heißen Reaktor abgeworfen wurden. Dadurch wurde auch die Unterseite der Hubschrauber radioaktiv verstrahlt, sie durften also den Bo­den nicht mehr berühren. Der aufgewirbelte und ebenfalls radioaktiv belastete Sand bedeckte aber alle Personen, und so wurden Sand und Staub auch einge­at­met. Ein Ent­kommen von der direkten Strahlung war also nicht möglich und die Zeltun­ter­künfte wurden deshalb auch „kleine Reaktoren“ genannt.

Beeindruckt hörten die Schüler der zehnten Klassen dem Bericht zu und kamen dann mit Anatolli Kifa ins Gespräch. Zunächst wollten sie wissen, ob er sich frei­willig zu diesem gefährlichen Einsatz gemeldet hätte. Anatolli erklärte, dass es wohl auch Freiwillige gab, er selbst sei jedoch in der Nacht vom 28. April von der Armee geholt worden. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine offiziellen Mel­­dungen über das Unglück. Sie bekamen den Befehl zur Behebung einer Katas­­trophe. „Ich kann nicht sagen, dass ich es gern gemacht habe, aber es war eine besondere Aufgabe, die ich für andere erfüllte.“ Die Antwort auf die Frage nach den körper­lichen Schäden fällt ihm emotional schon schwerer, er berichtet von vielen Erkran­kun­gen und Operationen. Von den 750 eingesetzten Liquidatoren leben heute nur noch 80. Die meisten davon seien schwerstkrank. Immer wieder gibt es neue Rückschläge, dies sei auch der Grund weshalb Oleksij Breus nicht mit nach Deut­sch­land reisen konnte. Kurz vor der Abreise kam es bei ihm erneut zu einer Erkrankung der Lunge. Von besonderem Interesse war für die Schüler aber auch die Frage, ob sich die Natur im Gebiet um Tschernobyl verändert habe. Herr Kifa antwortet „Die Natur wurde verändert, Ortschaften wurden einfach platt­gemacht, indem sie mit einer 5m dicken Sandschicht bedeckt wurden.“ Auch heute gibt es noch viele Menschen, die an den Spätfolgen leiden. Die Anzahl der Krebserkrankungen und auch von Missbildungen sei gerade bei den Familien der Liquidatoren besonders hoch. Ihnen wurde offiziell auch verboten, eine Familie zu gründen. Er selbst hat sich über das Verbot zur Familienbildung hinweggesetzt, er sieht sich unter dem „Schutz des Volkes“, und er ist sehr stolz auf seine Familie. Die Menschen haben sich mit der Strahlung und ihren Folgen „abgefunden“. Keiner misst heute noch die Strahlenbelastung von Lebensmitteln, keiner benennt mehr die Angst. „Die Verbundenheit mit der Heimat sei für viele größer als die Angst vor der Strahlung und ihren Folgen“, so die Antwort auf die Frage „Warum die Menschen nicht in weniger belastete Gebiete ziehen?“ Auch die Meinung zur Kernkraft sei in der Ukraine sehr unterschiedlich. Die meisten Menschen nähmen eine neutrale Haltung ein. Der Energiebedarf der Industrie sei sehr hoch, der Atomstrom sei sehr billig. Als Privatperson könne sich niemand eine Solaranlage leisten, da es keinerlei staatliche Unterstützung gibt. Herr Kifa sagt: „Was ich als Liquidator sah, möchte ich nie wieder sehen, aber ich sehe auch keine Alternative, auch wenn ich in der Seele gegen die Atomenergie bin. Es muss einen verantwortungsvollen Umgang geben.“

Tschernobyl zerstörte den Mythos der Unzerstörbarkeit von Atomkraftwerken. Für die Schüler sei es neu, diese Problematik aus „erster Hand“ zu erfahren. Herr Höl­zer bedankt sich im Namen der Schüler und Lehrkräfte und wünschte den bei­den Besuchern noch viel Erfolg für die weiteren Veranstaltungen der Aktions­woche in der Region.

Tschernobyl